Lindewerra
Das Stockmacherdorf Deutschlands

Geschichte

 

Das Wappen
Ein blaues Hufeisen, ein Lindenblatt und zwei Wanderstöcke sind symbolische Kennzeichen für das Dorf Lindewerra und daher heraldische Bestandteile des Ortswappens. Sie weisen auf die Lage am hufeisenförmigen Werrabogen, auf die Linden, die zum Ortsnamen führten und auf das einzigartige Handwerk hin, wodurch Lindewerra heute als das Stockmacherdorf Deutschlands gilt.

Die Ersterwähnung
Die Urkunde vom 24. Januar 1299, in der Graf Otto von Lauterberg den Verzicht auf all sein Gut „zo Lindenewerde“ zugunsten des Deutschen Ordens zu Marburg beurkunden ließ, belegt die Existenz der Ansiedlung, die heute den Namen Lindewerra trägt. Sicher hatten sich schon lange zuvor hier am abseits gelegenen Werrabogen Menschen niedergelassen, denn zu Füßen des Höhebergs fand man Schutz und in seinen Wäldern Bau- und Brennholz. Dem Fluss entnahm man das lebensnotwendige Wasser und freute sich über seinen Fischreichtum. In der Nähe - doch nicht zu nah - verlief die bedeutende alte Verbindungsstraße zwischen den Sachsen und den Franken durch den Höheberg.

Der Ortsname
Die auf der Hand liegende Namensdeutung „Linden an der Werra“, erweist sich als vorschnell, denn auf den Flussnamen bezog sich die ursprüngliche Ortsbenennung nicht, sondern ließ im Grundwort erkennen, dass mit dem Namen ein von Linden bestandener Werder, ein wasserfreies Land, bezeichnet wird. Erst im Jahre 1661 taucht die heutige Schreibweise mit dem Flussnamen auf. Zuvor heißt es u. a. „Lindenewerde“, „Lyndenwerder“, „Lingenwerd“.

Hansteinisches Gerichtsdorf
1376 und 1379 kaufte Werner von Hanstein je eine Hälfte des Dorfes von der hessischen Familie von Dörnberg. Im Hansteinschen Gesamtgericht blieb das Dorf mit weiteren 20 Dörfern des westlichen Eichsfeldes bis 1849. Die Gerichtsherren sorgten in entscheidendem Maße dafür, dass die Bewohner ihrer Dörfer frühzeitig den evangelischen Glauben annahmen und diesen auch in der Zeit der Gegenreformation nicht ablegten.

Grenzfluss Werra
Die Werra, der „Wiesenfluss“, bildet einen Teil der Gemarkungsgrenze von Lindewerra. Wenige hundert Meter vor dem Dorf verließ die historische Grenzlinie die Flussmitte und führte über den Schürzeberg bis nahe der Oberrieder Bahnbrücke zur Werra zurück. Hier grenzten in geschichtlicher Folge die Gebiete der Thüringer und Franken, der mainzischen, später preußischen Eichsfelder und der Hessen aneinander. Markant wurde die Grenze, nachdem 1945 amerikanische und russische Besatzungstruppen beide Flussufer besetzten und hernach zwei deutsche Staaten entstanden. Eine einschneidende Veränderung, bei der die fruchtbarsten Ländereien abgetrennt wurden, erfolgte durch das Wanfrieder Abkommen am 19. September 1945. Seit dieser Zeit liegen ca. 100 ha Gemeindefläche auf hessischem Gebiet.

Die Werrabrücke
Mit dem Brückenbau in einem fast unvorstellbaren Bautempo von nur gut einem halben Jahr ging ein über Jahrhunderte gehegter Traum der Bürger Lindewerras in Erfüllung. Am 11. Juni 1901 ließ die amtliche „Heiligenstädter Zeitung“ ihre Leser wissen: „Die neue Werrabrücke ist seit einigen Tagen für Fußgänger passierbar, was namentlich auch die Besucher der Teufelskanzel interessieren dürfte. Um von der Teufelskanzel zum Bahnhof Oberrieden zu gelangen, braucht man nur noch ½ Stunde Zeit …“Mit der endgültigen Fertigstellung der Brücke konnte man nun die auf der linken Werraseite gelegenen Felder und Wiesen auf direktem Wege erreichen, musste nicht mehr die Fähre benutzen, obwohl diese schon sicherer war als der oft gefahrvolle Weg durch die Furt im Fluss. Man brauchte auch keine Tagesreisen mehr mit dem Kuh- oder Pferdegespann über Wahlhausen und Allendorf anzutreten, um auf der gegenüberliegenden Werraseite Heu zu holen oder Kartoffeln zu ernten.
Für 69.471,49 Mark, die zum größten Teil aus dem sogenannten preußischen Westfonds kamen, war eine stattliche sechsbogige Sandsteinbrücke gebaut worden, für die insbesondere auch die Stockmacher Lindewerras dankbar waren, denn sie konnten ihre Produkte nun mit den Schiebekarren zum Oberrieder Bahnhof bringen. Einziger Leidtragender war wohl Fährmann Wilhelm Degenhardt, der sich beschwerdeführend an das königliche Landratsamt in Heiligenstadt wandte: „Ich bemerke hierbei gehorsamst, daß ich sowie meine Eltern das Überfahren seither betrieben haben und daß mir durch den Brückenbau dieser Verdienst genommen wird …“ Seine Bitte, an der Brückenbaustelle einen Ausschank einzurichten, wurde jedoch strikt abgelehnt.

Ende und Wiedergeburt
Als Symbol für die jüngere deutsche Geschichte wurde die Werrabrücke bei ihrer Wiederübergabe am 17. Juli 1999 von prominenten Rednern bezeichnet. Deutsche Wehrmachtssoldaten hatten die Brücke 54 Jahre und 100 Tage zuvor trotz flehend vorgetragenen Bitten der Einwohner von Lindewerra am 8. April 1945 gesprengt, als sich amerikanische Verbände von Westen her dem Eichsfeld näherten. Der wenige Tage nach der Besetzung durch die Amerikaner ins Leben gerufene Ausschuss zum Wiederaufbau der Brücke stellte seine Arbeit ein, als die Werra im Juli 1945 zur Grenze zwischen russischem und amerikanischem Beatzungsgebiet wurde. Bis 1952 konnten die Lindewerrschen Bauern auf Passierschein noch per Fähre übersetzen, doch danach ließen DDR-Politiker einen fast völlig undurchlässigen Stacheldraht- und später Streckmetallzaun vor der Werra errichten. Nach Grenzöffnung und Wiedervereinigung dauerte es dennoch fast 10 Jahre, bis die Pläne für die Sanierung der Brückenruine umgesetzt und der denkmalgeschützte Rest durch ein flussüberspannendes neues Stahlbetonbauwerk ergänzt wurde. Die erforderlichen 2,25 Millionen DM stellten zu zwei Dritteln der Freistaat Thüringen und zu einem Drittel das Land Hessen bereit. An der tiefsten Stelle des Landkreises Eichsfeld mit 141,2 m über dem Meeresspiegel verbindet die Werrabrücke nun das Eichsfeld mit dem nordhessischen Werra-Meißner-Kreis.

Die Dorfkirche
Die evangelische Kirche wurde 1738 als kleiner Barockbau neu errichtet, besitzt aber gotische Baureste der Vorgängerkirche, die in katholischer Zeit der Gottesmutter Maria geweiht war. Der schöne Flügelaltar wurde um 1500 geschaffen. Er ist der kleinste der gotischen Klappaltäre in einer eichsfeldischen Kirche. Im Mittelschrein wird die Krönung der Gottesmutter durch Gottvater und Jesus Christus dargestellt. Zu ihren Seiten und in den Flügeln sitzen die hl. Prinzessinnen Margareta, Dorothea, Barbara und Katharina sowie die Heiligen Cyriakus und Maria Magdalena. 1935 hatte Prof. Edward Schröder aus Marburg in einem umfangreichen Beitrag in der „Zeitschrift für Landes- und Volkskunde, Geschichte, Kunst und Schrifttum Hessens“ den Lindewerraern geraten, den Flügelaltar an ein Museum zu verkaufen, um mit dem Erlös eine neue Orgel zu beschaffen. Glücklicherweise wurde auf beide Empfehlungen nicht reagiert. Deshalb hat die Kirche mit der kleinen Barockorgel, die 2002 durch Orgelbaumeister Karl Brode saniert wurde, eine denkmalwerte Kostbarkeit des klassischen Orgelbaus, die seit ihrem Einbau um 1775/80 im wesentlichen unverändert blieb.Die beiden kleinen Kirchenglocken von 1954 erhielten auf Initiative und vorwiegend auch durch die Spenden des Heimatvereins 2003 ein elektrisches Läutewerk.

Historisches Mauerwerk
Unweit der Kirche erhebt sich als ältestes Bauwerk des Dorfes ein beachtliches massives Sandsteingebäude, das trotz erheblicher baulicher Eingriffe seinen historischen Charakter nicht verloren hat. Es handelt sich um die „Kemenate“, einen festen, beheizbaren adligen Wohnsitz, mit dem der Abt von Fulda die Hansteiner 1435 belehnt hatte.

Stockmacherdorf seit 1836
Wenn von Lindewerra die Rede ist, entsteht rasch die gedankliche Verbindung zu den Stockmachern, die in dem Werradorf ihr Handwerk ausüben. Sie verhalfen dem Dörfchen zu einem außergewöhnlichen Bekanntheitsgrad, stützt man sich doch in den beliebtesten Wanderregionen Mitteleuropas und noch ferneren Ländern auf Wanderstöcke aus Lindewerra.
Im Jahr 1836 siedelte sich der Stockmacher Wilhelm Ludwig Wagner aus Eddigehausen bei Göttingen in Lindewerra an. In den Eichenwaldungen des Höhebergs und der Harth fand er das erforderliche Rohmaterial unmittelbar vor der Tür. Unverzüglich begann er mit der Anfertigung seiner „Geh-Hilfen“ und wurde bald zum Lehrmeister für viele Dorfbewohner, die in der Ausübung des Handwerks ihre Chance zur Überwindung von Armut und Not sahen. Das Stockmacherhandwerk entwickelte sich schnell zu einem blühenden Gewerbe, so dass es um 1900 im Dorf kaum eine Familie gab, die nicht gänzlich oder doch zeitweilig mit dem „Stöckemachen“ beschäftigt war. Um an den Begründer des Stockmacherhandwerks zu erinnern und ihn zu ehren, wurde 1996 am Hirtenrasen ein Gedenkstein enthüllt. Die Anzahl der Stockmachereien und der hergestellten Stöcke sind drastisch zurückgegangen. Die ganze Palette an Stöcken entsteht gegenwärtig nur noch in der Stockmacherei von Wolfgang Geyer.

Das Stockmachermuseum
Um die Entwicklung des einmaligen Handwerkszweiges zu dokumentieren und den Werdegang eines traditionellen Stockes zu zeigen, wurde das kleine Stockmachermuseum 1980 gegründet und bis in die Gegenwart schrittweise erweitert. Im „Backhaus“, in der „Arbeitsstube“ und im „Stöckelager“ kann man sich unter dem Motto der vielseitig interpretierbaren Volksweisheit „Es ist der Stock, der manchem fehlt!“ über die Handwerksgeschichte und die 32 Arbeitsgänge informieren, die erforderlich sind, um aus einem Edelkastanien-Rohling ein sicheres und attraktives Wanderrequisit werden zu lassen. Historische Werkzeuge und Stöcke gehören ebenso zur Ausstellungskollektion wie die derzeit noch immer vorwiegend in Handarbeit produzierten Wander-, Spazier-, Kranken- und Jagdstöcke. Die etwa 5.000 Gäste, die das Museum jährlich besuchen, werden von April bis Oktober jeweils sonntags von 13.30 bis 17.00 Uhr und außerhalb dieser Zeit ganzjährig nach telefonischer Voranmeldung sachkundig von Mitgliedern des Heimatvereins betreut.

Die Teufelskanzel
Zu einem Besuch Lindewerras gehört selbstverständlich eine Wanderung zur Teufelskanzel, jenem sagenumwobenen Sandsteinfelsen in 452 Metern Höhe, für den die Volkssage ebenso wie für den hufeisenförmigen Werraverlauf den Teufel als Schuldigen bezichtigt. Die Mühen des Aufstiegs werden reichlich belohnt, denn von der Teufelskanzel genießt man den wohl imposantesten Panoramablick ins Werratal, auf Lindewerra, Oberrieden und das Hessische Bergland. Dieser romantische Fleck muss schon unsere germanischen Vorfahren so beeindruckt haben, dass sie ihn als Opferstätte auserwählt haben sollen. Theodor Storm, der als Kreisrichter in Heiligenstadt gern in seinem eichsfeldischen Amtsbereich wanderte, empfand hier, „wo sich unten im Sonnenglanz die lachendste Landschaft ausbreitete“, voller Begeisterung die auf ihn wirkende Natur und er schwärmte in seiner Novelle „Eine Malerarbeit“ 1867: „Wer dessen noch fähig war, der mußte hier von Lebens- und Liebeslust bestürmt werden.“

„Fremdenverkehrsgemeinde“ Lindewerra
Per Gesetz wurde Lindewerra gemeinsam mit Heiligenstadt, Dingelstädt, Leinefelde, Worbis, Bornhagen u. a. bereits am 26. März 1936 als eichsfeldische Fremdenverkehrsgemeinde anerkannt. Aber schon zuvor kamen viele Wanderer in das Werradorf, kehrten in den drei Gasthäusern ein oder logierten in der Pension. Zwischen 1900 und 1944 kamen jeweils am Himmelfahrtstag die „Blauen Sänger“ der Göttinger Alma Mater zu gesanglichem Wettstreit mit Lindewerrschen Chören, zu gemeinsamem fröhlichem Umtrunk unter der Dorflinde und zur Fuchsentaufe an der Werra. Heute wird Lindewerra gern als Ausgangs- oder Zielort ausgedehnter Wanderungen zur Teufelskanzel, zur Burg Hanstein und zur Burg Ludwigstein, aber auch ins Hessische Bergland oder auf der Deutschen Märchenstraße gewählt. Neun beeindruckende Wanderstrecken in unmittelbarer Umgebung, die allesamt gut markiert sind, empfehlen die Lindwerrschen Wandervögel gern ihren Gästen. An den Wochenenden sind es Hunderte Radfahrer, die den gut ausgebauten Werratalradweg zwischen Bad Sooden-Allendorf, Witzenhausen und Hann. Münden über Lindewerra nutzen. Den Wassersportlern erleichtert seit 2004 eine Bootsanlegestelle an der Werrabrücke den Besuch des Stockmacherdorfes und eine nötige Rast.

Schelmenrode
Mehrfach besuchte der heute nicht mehr sehr bekannte Schriftsteller Hans Hermann Wilhelm (1893-1963) Lindewerra und veröffentlichte schließlich seine literarischen Skizzen über das Dörfchen „Schelmenrode“, wie er Lindewerra nannte. Einleitend behauptete er: „Im Herzen Deutschlands, im schönen Werraland, liegt unterhalb der Teufelskanzel das Dörfchen Schelmenrode, in dem ich das schabernackigste Volk auf allen meinen Wanderungen und Streifzügen durch Deutschland kennenlernte. Das aber hatte seinen Grund nur darin, daß der Teufel selbst ihr Schutzheiliger gewesen sein soll, der vor Zeiten, wie die Sage erzählt, von den Bergen hinab ins Tal gepredigt hat …“